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Blog_Moral_Injuries

Wenn die Seele der Helfenden leidet – Studie zu moralischen Verletzungen in der psychiatrischen Pflege

12. August 2025 · ·

Was bedeutet «Moral Injury»?

Der Begriff «Moral Injury» beschreibt psychisches Leid, das entsteht, wenn Pflegende Handlungen ausführen oder Situationen beobachten, die ihre tief verwurzelten, moralischen Werte verletzen. Dies kann beispielsweise durch äussere Anweisungen oder systemische Zwänge verursacht werden. In der psychiatrischen Pflege kann das zum Beispiel bedeuten, Zwangsmedikationen durchzuführen oder freiheitsbeschränkende Massnahmen umzusetzen, obwohl sich das innerlich falsch anfühlt.

Zwischen Zwang und Zweifel

Célina Heitzmann hat 19 psychiatrisch tätige Pflegefachpersonen aus der Deutschschweiz befragt. Die Interviews zeigen, dass moralische Verletzungen keine Ausnahme sind, sondern häufige Begleiter im Berufsalltag. Besonders belastend erlebten die Befragten Situationen, in denen sie Entscheidungen oder Handlungen mittragen mussten, die nicht ihren eigenen moralischen Werten entsprachen. Darunter fallen etwa Zwangsmassnahmen oder restriktives Verhalten gegenüber Patientinnen und Patienten. Auch Hierarchien, fehlende Unterstützung und Personalmangel verstärkten das Gefühl, nicht in Übereinstimmung mit seinen eigenen moralischen Werten und Überzeugungen handeln zu können.

Folgen, die weit über das Berufliche hinausgehen

Die Auswirkungen solcher Erfahrungen sind tiefgreifend. Die Studie zeigt: Moralische Verletzungen führen nicht nur zu kurzfristigem Unbehagen, sie haben auch ernste Langzeitfolgen. Dazu zählen Jobwechsel, Schlafstörungen, Angstzustände, Panikattacken, sensorische Überreizungen und sogar Substanzmissbrauch. Manche Pflegefachpersonen berichteten von innerer Unruhe, psychosomatischen Beschwerden und der Schwierigkeit, belastende Situationen loszulassen. In einzelnen Fällen war der Leidensdruck so gross, dass Betroffene die psychiatrische Pflege verliessen, ihren Beruf ganz aufgaben oder professionelle Hilfe in Anspruch nehmen mussten.

Strategien gegen das innere Zerreissen

Doch die Studie zeigt auch Wege auf, wie mit «Moral Injuries» umgegangen werden kann. Viele Pflegefachpersonen entwickelten mit der Zeit persönliche Strategien, mit diesen schwierigen Situationen umzugehen. So waren Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, Supervisionen oder ethische Fallbesprechungen hilfreich, belastende Situationen zu reflektieren und emotional zu verarbeiten. Besonders hilfreich seien laut Heitzmann Strukturen, in denen man offen über moralische Dilemmata sprechen kann.

Einige Befragte beschrieben ihre moralischen Krisen sogar als Wendepunkt. Sie begannen, ihre Werte und Grenzen bewusster wahrzunehmen, um eine potenzielle «Moral Injury» früher zu erkennen und entwickelten daraus eine stärkere berufliche Haltung.

Relevanz für Pflege und Gesellschaft

Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über ethische Herausforderungen in der psychiatrischen Pflege. Sie zeigt, dass «Moral Injuries» kein Einzelfall sind und nicht nur das persönliche Erleben, sondern auch die Qualität der Versorgung und die Bindung von Fachpersonal betreffen.

Heitzmann plädiert dafür, Räume für ethische Reflexion im Berufsalltag zu schaffen. Ethische Fallbesprechungen, Ethik-Cafés oder Supervisionen könnten helfen, schwierige Situationen besser zu verarbeiten. «Es braucht mehr Sensibilität für das Thema, nicht nur in der Pflege, sondern im gesamten Gesundheitswesen. Denn letztlich gehe es um die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Menschen umgehen, die auf Unterstützung angewiesen sind und mit jenen, die sie täglich leisten», betont sie.